Zu den Tagebuch-Zeichnungen von Kyung-Hwa Choi-Ahoi,
Kunstverein Schallstadt, 29.9.2013

“Ohne Mythen wäre die Welt geschichtenlos.” (20.01.2009)

Auf der Suche nach einem ‘Gründungsmythos’ für die Tagebuch-zeichnungen Kyung-Hwa Choi-Ahois findet sich in ihren Auf-zeichnungen die Beschreibung eines Kindheitserlebnisses. Der Bruder der Künstlerin hatte in Seoul ein Küken von Straßen-händlern gekauft und zu Hause großziehen wollen. Es starb kurz darauf. Später stieß Choi-Ahoi zufällig auf das Innere einer Schublade im Schreibtisch ihres Vaters, den dieser an seine Kinder weitergegeben hatte:

“Ohne große Gedanken öffnete ich die zweite Schublade. Seitlich auf dem Holz entdeckte ich eine Kritzelei meines jungen Bruders. Ich las,
xx – Tag, xx – Monat,
heute ist der Todestag meines Kückens. Deshalb bin ich traurig. Neben dem Graffiti fand ich eine Zeichnung ‘Blau-Strich-Kücken’.” (22.5.2008)

Die Trauer um das verstorbene, bereits ins kindliche Herz ge-schlossene Küken wird zum Auslöser der sprachlich-bildnerisch-en Gestaltung. Darin korrespondiert sie mit einem Ursprungs-mythos der Malerei allgemein, der in der Kunstgeschichte oft dargestellt wurde, und der auf einen antiken Bericht des Plinius zurückgeht: Ein Mädchen aus Korinth nimmt bei Kerzen-schein Abschied von ihrem Geliebten, der in den Krieg ziehen wird. Das Kerzenlicht wirft seinen Schatten an die Wand und das Mädchen zieht den Umriss mit einer Linie nach, um das Bild des Geliebten festzuhalten. Das Porträt, also die Profil-silhouette des Mannes, wird zur dauerhaften Manifestation des Vergänglichen.

Das große Projekt der Tagebuchzeichnungen, das Choi-Ahoi seit 1999 durchführt, enthält viele Bilder, bei denen – wie in der beschriebenen Schublade – Schrift und Zeichnung eine enge Verbindung miteinander eingehen. Der häufigste Anlass für das Schreiben von Tagebüchern ist auf Reisen gegeben. Choi-Ahois Tagebuch könnte in seiner Anfangszeit so motiviert gewesen sein: Sprachlich entwurzelt notiert sie Details einer zunächst fernen, dann immer näher rückenden, vertrauteren Welt in Ham-burg. Der Verlust der Heimat gleicht nicht dem Tod des Kükens, aber er wiegt schwer und es dauert Jahre, bis zwischen der koreanischen und deutschen Identität eine Synthese gelingt. Mit der radikalen Veränderung der Außenwelt korrespondiert ein langsamer Prozess der Anpassung der Innenwelt. Das geschieht zunächst weitgehend im Verborgenen. Die Schublade des väter-lichen Schreibtischs könnte hierfür als Bild dienen.

Gaston Bachelard schreibt in der “Poetik des Raumes” (Paris 1957): “Der Schrank und seine Fächer, der Schreibtisch und seine Schubladen, die Truhe mit dem doppelten Boden sind wirk-liche Organe des geheimen psychologischen Lebens. Ohne diese ‘Objekte’, neben einigen anderen ebenso wertvollen, würden unserem inneren Leben die äußeren Modelle der Innerlichkeit fehlen. Gleich uns, durch uns, für uns haben sie eine Inner-lichkeit.”

Die Schublade als Metapher für ein Gefäß der Innerlichkeit gibt der ‘gespaltenen Identität’ der migrierten Künstlerin einen Rahmen. Die ‘Gespaltenheit’ hingegen artikuliert sich in der Heterogenität ihrer Darstellungsweisen. Daraus entstand eine kontinuierlich erweiterte stilistische und handwerkliche Diversität ihrer Zeichnungen, die bis heute weiterentwickelt wird.

Die Beschreibung ihres 12qm-Zimmers im Hamburger Studenten-wohnheim auf den ersten Seiten von “Augenarzt und Uhrmacher” lässt sich als Vergrößerung des Bachelard’schen “Kästchens” lesen. In Bezug auf die Raumökonomie kann man an die aus europäischer Perspektive beengten Wohnverhältnisse vieler Familien in asiatischen Ländern denken. Es lassen sich aber auch künstlerische Modelle wohnräumlicher Beschränkung asso-ziieren. Der Hamburger Künstler Moritz Wiedemann baute 1997 mit der sogenannten “Schrankskulptur” ein Möbel, aus dem man ein ganzes Zimmer mit Bett, Tisch und Schrank und den dazu gehörigen Utensilien ausfalten kann. Wiedemann ging es bei diesem Projekt um Reduktion und um die Optimierung aller noch vorhandenen Bestandteile im transportablen Wohnraum.

Die Betonung der Raumökonomie verbindet Wiedemanns Skulptur mit der Raumbeschreibung Choi-Ahois. Doch im weiteren Ver-gleich wird ein wesentlicher Unterschied augenfällig: Choi-Ahoi beschreibt – mit ihrer “eingebauten privaten Zeitlupe” (4.4.2005) – ihr Zimmer so, wie sie es vorfindet und man er-fährt, dass es kaum etwas darin gibt, was im Besonderen zu loben oder hervorzuheben wäre. Stattdessen belässt die Künst-lerin den Raum und nutzt gewöhnliche Gegenstände für ihre Beobachtungen und deren imaginative Fortsetzungen. So entfal-tet sie eine vielgestaltige Welt, die den Leser und Betrachter auf der Reise durch den 12qm-Kosmos mitreißt und ihn schließ-lich über dem Boden der Tatsachen schweben lässt, wenn er von der Künstlerin – per Du mit den Autoren und Autorinnen der westlichen Weltliteratur in ihrem Bücherregal – liest: “Momentan plaudere ich oft mit Robert Walser und verbringe viel Zeit mit ihm.” Er “hat mir vorgeschlagen, nächsten Sonn-tag die Alster entlang zu spazieren”.

Neben der beflügelten Fantasie im Umgang mit den sie umgeben-den Dingen steht der sachliche, überaus präzise Realismus ihrer Wahrnehmungen: “Oberhalb der Stirnseite meines Schreib-tisches”, schreibt Choi-Ahoi am 7.1.2001 “ist ein glasiges Quadrat, ein einziges Fenster in meinem Wohnraum. Das ist die Leinwand für einen stillen passiven Augenkontakt mit der Außenwelt. Ich erfahre wahnsinnig vieles durch das Glasqua-drat. Es zeigt mir täglich eine undekorierte Tatsache, wie das Wetter ist, welche Farbtöne jede Jahreszeit hat, wie die klei-nen Minikinder auf dem Spielplatz sich bewegen und schreien, wann ein Eichhörnchen den Wasserteller ableckt. Diese lebhafte Kinografie schlingt sich um den Farbpinselstrich, der in jeg-lichen Tagesblättern lesbar ist. Die Tagebuchzeichnung.”

Wenn das Fenster die Fläche ist, die den “passiven Augenkon-takt mit der Außenwelt” eröffnet, dann ist der Schreibtisch die Fläche, an der der ‘aktive Augenkontakt mit der Innenwelt’ stattfindet. Ließe sich nicht eine Entsprechung zwischen die-sen Alltagsflächen des Fensters und Tisches mit dem Din-A4-Blatt, das die Künstlerin für ihre Tagebuchzeichnungen nutzt, annehmen? Das Blatt und sein Format entspricht den Kategorien des Alltagsgegenstands und seiner relativen räumlichen Be-schränkung. Eine weitere Entsprechung kann man erkennen: Die Schublade in der Kindheitserinnerung und der Schreibtisch im Wohn- und Arbeitsraum der Künstlerin bilden gleichermaßen einen Schutzraum, einen Rückzugsort, in dem das Vorstellungs-vermögen aktiviert wird.

Neben die statischen Raumerfahrungen im häuslichen Umfeld tritt in “Augenarzt und Uhrmacher” die Erzählung von einer dynamischen Konfrontation mit einer bewegten Räumlichkeit, die wie schon in der Geschichte vom verstorbenen Küken von einer Todesbedrohung handelt. Am 1.12.2008 beschreibt Choi-Ahoi die Szene, in der sie als Radfahrerin beinahe mit einem Lastwagen kollidiert wäre. In der anschließenden Textpassage heißt es:
“Falls ich aus Versehen einen Zusammenprall mit diesem LKW hätte, würde ich vom Fahrrad umfallen und auf die Fahrbahn liegen. Der LKW-Fahrer würde vor Schreck vollbremsen. Trotz der Vollbremsung würde der LKW über meinen liegenden Leib rollen. An diesem Augenblick sähe ich zum ersten Mal den Bauch des LKWs und erfahre den Raum unter ihm. Die Breite des Raumes ist vom linken bis zum rechten Rad 3,5 mal lang wie ich und die Höhe ist ungefähr so hoch, dass der LKW über meinen Rumpf ohne jede Berührung durchfahren kann. Ich würde dem Unterraum von diesem LKW wahrnehmen. Und danach? Vielleicht hätte ich ein lebenslanges Trauma über diesen Unterraum oder eine Faszination.” Darauf folgt ein lakonisches: “Wer weiß.”

In dieser Szene spiegelt sich die Ambivalenz der Begegnung mit einem potenziell klaustrophobischen Raum: Die Enge und die Banalität eines Alltagsraums lassen das Kind ebenso wie die Künstlerin Fantasmen des Raumes erleben, die ebenso überrasch-end wie ansteckend sind. Ansteckend, weil sie aufgrund ihrer alltäglichen Ursprünge jedem Menschen umstandslos Anknüpfungs-punkte bieten und überraschend, weil Kyung-Hwa Choi-Ahoi eine Künstlerin ist, die ihre Beobachtungen mit präzisen und ein-dringlichen Vorstellungsbildern zu verbinden weiß.

Dieses “Wissen” entsteht aus einer phänomenalen Durchlässig-keit und Aufnahmefähigkeit gegenüber Reizen der Außenwelt, seien sie auch noch so versteckt, beiläufig wahrgenommen oder als nebensächlich bewertet. Um Choi-Ahois Reaktionen auf die den Tagebuchzeichnungen zugrunde liegenden Gegenstände zu charakterisieren, beziehe ich mich auf einen Begriff, den die französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute in einem In-terview mit Hans Ulrich Obrist in Paris 1999 erläutert hat und der 1986 einem ihrer Bücher den Titel gab (in deutscher Über-setzung): Tropismen.

Sarraute sagt: “Die Gegenwart bewegt sich ziemlich langsam. Das ist es, was mich am Akt der Herstellung (von Kunstwerken) interessiert. Es handelt sich um eine Art dauerhafter Gegen-wart. Die Gefühle und inneren Bewegungen, die ich Tropismen nenne, spielen dabei eine Rolle. Tropismen sind Reaktionen, die von inneren Bewegungen ausgelöst werden, die wir nicht kontrollieren können. Sie geschehen einfach.”

“Tropismus” ist ein Begriff, der vor allem in der Biologie verwendet wird und dort die unwillkürlichen “Reizbewegungen” von Pflanzen bezeichnet, die ihren Standort nicht verändern können, aber reflexhaft auf Außenreize, wie zum Beispiel Licht, Berührung, chemische Einflüsse reagieren. Bei Sarraute handelt es sich um literarische Momentaufnahmen ohne Narra-tionen und Personalisierungen. Die Reiz-Reaktionsschemata von Person und Umwelt werden von der Autorin mit einem Abstand betrachtet, der Sachlichkeit garantiert und dennoch oder gerade deshalb die Assoziationsfreiheit des Lesers erhält.
“Reichtum und die Komplexität des seelischen Lebens”, so Sarraute, soll auf diese Weise fokussiert werden. Es scheint, als wahre Kyung-Hwa Choi-Ahoi in ihrer Kunst der Beobachtung und Assoziation einen vergleichbaren Abstand zu ihrer Umwelt und reagiere zugleich seismographisch auf jedes Detail, das sie registriert.

Vergliche man ihren Corpus der Tagebuchzeichnungen mit dem gewöhnlichen privaten Fotoalbum, so liegen im Album Dokumente persönlicher Vergangenheit vor, die angesichts der Unwieder-bringlichkeit der aufgezeichneten Momente Melancholie aus-lösen. Je weiter aber wie bei Kyung-Hwa Choi-Ahois Tagebuch-Zeichnungen das beobachtete Bild in ein künstlerisches Werk transformiert wird, desto unabhängiger wird es von der Beob-achtung und dem erlebten Moment. Das von der Künstlerin Erfah-rene erscheint im Bild weder als ein gänzlich Vergangenes, noch als ein Zeitenthobenes; stattdessen entsteht die Anschau-lichkeit einer gedehnten Zeit der Bildherstellung, die auf die Gegenwärtigkeit des auslösenden Moments folgt. Die “dauerhafte Gegenwart” (Sarraute) des Kunstwerks setzt sich im Betracht-ungsprozess fort, so dass der Betrachter mit der Künstlerin in einer zeitlichen Komplizenschaft verbunden ist.

Gegenwärtigkeit und die Synthese von alltäglicher und künst-lerischer Realität verbindet die Bildinszenierungen auf den Blättern des Tagebuchs mit Choi-Ahois Vorliebe für das Thea-ter. Am 28.1.2009 schreibt sie: “Ich gehe gern zum Theater, weil das Theater ein Raum eines Geschehens ist, in dem mir gleichzeitig angeboten wird – ohne die Welt der Wirklichkeit zu verlassen – der reale Raum und das Abweichen von ihm. Das fiktive Geschehen bekommt plötzlich einen Puls und es wird immer belebter (und es scheint wahrhaftig)”.

Marvin Altner