In der Nacht habe ich beide Jäger gezeichnet. Werner Pflaum und Peter Schlosser.
Es war die Spannung pur. Werner hat einen Rehbock erledigt.
22:40
„Weidmannsheil!“ und „Weidmannsglück!“
Der erste Schuss, den ich zum ersten Mal im Leben hörte, traf einen Rehbock, den ich durch das Autofenster eines Jägers erblickte. Der Jäger heißt Werner Pflaum und jagt seit 28 Jahren.
Er zeigte mir mit dem Zeigefinger zwei Rehe an der rechten Seite. Sie waren ein junges Paar. Sie standen anmutig in den sommerlichen grünen Buschen. Ich hatte das Gefühl, als ob ich eine geöffnete Seite eines Kinderbuchs vor mir hätte, in der, zwei schöne Rehböcke in der Landschaft illustriert sind.
Ich schaute das Pärchen im Freien mit großer Bewunderung an und packte gleichzeitig meine Zeichenutensilien geräuschlos aus der Stofftüte aus, um diesen Begegnungsmoment zeichnerisch festzuhalten. An dem Moment hörte ich den Knall des Schusses. Werner sagte, „das hat ihn getroffen“. Den Schreck über das schlagartige Geschehen kann ich mit keinem Wort beschreiben. Ich war vollkommen irritiert und wußte nicht, ob ich weinen oder anlächeln soll. Die Emotion war völlig form-unbewusst wie ein Bleiguss bei der Neujahrsempfang. Das bittersaure Anlächeln mit einem mondänen Gebiss. Vielleicht.
Kurz danach fuhren wir auf dem Gebirge hinauf zur Hütte, die Rosshaltlhütte hieß, und wo die Jäger sich aufhalten. Da wartete Jäger Peter Schlosser auf uns. Der 66jährige Peter jagt seit über 30 Jahre in den Gegenden. Schon als kleiner Bub hatte er immer ein grünes Gewand an. Er war immer gern im Wald. Von klein aus hatte er das Interesse an der Jagd, erklärte er mit seiner ruhigen Erzählstimme, die nach Tausendjahre-Einsamkeit witterte.
Meistens war Peter wortkarg aber als ich auf sein Jägertagebuch aufmerksam wurde, verschwand seine Zurückhaltung und begann, viele Geschichten über jedes Einzelfoto im Album zu erzählen. Im Gegenteil von seinem tapsigen Aussehen beobachtete er einfühlsam seine Umgebung. Seine handgeschriebene Kurz- und Langnotizen im Jägertagebuch bestätigten meine Einschätzung über ihn. Sein mehrbändige Jägertagebuch rät mir seine persönliche Zeit und intime Räume. Das Ganze ließ mich an ein Kurzroman „Das Jagdgewehr“ von Yasushi Inoue erinnern, ins besondere an den einsam wirkenden Rücken des Jägers, der seinen Weg durchs Gebirge zieht.
Auf jeder Seite des Jägertagebuches gab es ein paar geklebte Fotos so wie ein übliches Fotoalbum. Gruppenfotos mit Jägern. Fürsten mit Jagdgewähr. Erledigte Tiere, Murmeltiere, Rehböcke, Gämse, Füchse, Birkenhähnen…
Es fiel mir auf den Fotos auf, dass die Jäger stolzig ums erlegte Tier wie eine Mauer standen und in die Kamera anlächelten. Stattdessen lagen alle Tiere tot auf dem Boden außer des Jagdhundes. Alle erlegten Tiere, egal welche Tierart, hatten mundvoll frische Tannenzweige. Sogenannt. Der letzte Biss.
Peter und ich gingen zum Hochsitz. Er nahm ein Fernglas und sein Jagdgewähr mit und trug seine Jägermütze, die mit zwei Federn von Birkenhahn und mit den Zähnen von Murmeltieren geschmückt war. Der Schmuck der Mütze kam aus den von ihm erlegten Tieren. Eine Pfeife aus Holz am Hals trug er auch. Sie pendelte in seinem Schritt-Rhythmus beim Gehen. Der Hochsitz war klein aber gemütlich. Drinnen konnten gerade zwei Personen sitzend sich aufhalten aber nicht im Stehen. In der Stille beobachteten wir die zielundefinierte Ferne, besser formuliert einfach ins Grüne hinein. Eine Weile später sah er ganz weit vom Hochsitz im Wald einen Rehbock, den ich erst kaum erkennen konnte, bis er mir „da und da“ mehrmals angezeigt hatte. Endlich fand ich einen braunen Punkt, der sich bewegte und nach einer Weile im Grünen verschwand.
Mit dem Satz „der wird bald zu uns nah runterkommen“ fing er an, ganz leise seine Holzpfeife zu blasen. Das Geräusch aus der Pfeife klang wie das Vogelzwitschern aus der Ferne.
Die Nachahmung der Töne breitete sich mit Luftwellen von dem Hochsitz in die Tiefe des Waldes. Der Klang hatte Etwas Beruhigendes. Ich atmete im Rhythmus des Pfeifengesangs.
Plötzlich hörte er mit dem Pfeifen auf und flüsterte mir, „Schaue runter“. Ich sah ein junges Reh mit dem unreifen Hörnchen neben dem Baum nah vom Hochstand. Der war zart anmutig! Ich war tief besorgt, dass Peter ihn schießen würde, wie Werner getan hatte. Ich hatte vor, alles zu tun, damit er wegläuft. Als ich den Lärm machen wollte, flüsterte er noch leiser als je sonst, „Bleib ganz ruhig!“. Der Rehbock schaute mich in die Augen. Sein Blick bohrte sich in meiner Pupille hinein. Mein Herz raste. Ich war halluziniert vor dieser Überraschung. Nach einer Weile hupfte er mit dem Zucken und lief schnell weg.
Peter tat nichts.
Wir gingen unter, als der Wind in die Gegenrichtung, also nicht mehr zu uns, wehte und schließlich als zwei wilde Pferde in dem Wald erschienen. Peter erklärte mir, wenn die Pferde da sind, kommt der nicht.
Mit Cindy, sein Jagdhund, und mit Christian, auch einem Jäger, kam Werner zur Rosshaltlhütte zurück, wo Peter und ich auf ihn warteten.
„Schau“ sagte Werner zu mir. Ich verstand nicht, was er meinte,
Während ich auf der Bank direkt neben dem Eingang der Hütte regungslos saß, sagte er noch mal zu mir, „willst du nicht sehen?“. „Was soll ich sehen?“, „Das Reh“, „!“, „Im Auto“. Ich stand auf und ging zum Auto, wo Christian stand. Die Hintertür des Autos war ganz offen. Das Reh lag im Kofferraum. Sein Kopf mit dem Geweih lag vorsichtig auf dem grüngefärbten Rucksack von Werner hin. Seine Augen kristallklar offen. Mundvoll mit Tannenzweigen. Es roch stark nach frischen Tannen. Es roch nach dem Wald., wo er lebte. Ich streichelte tröstend den toten Kopf, der schon längst keine Wärme hatte.
Eine Weile stand ich dort schweigend. Bei der Abenddämmerung im anhaltenden Sprühregen fing ich an, den Rehbock im Kofferraum zu zeichnen. Ich machte Schnellskizzen. Trotzdem wurde das Zeichenpapier naß. Die Bleistiftstriche wurden ungeschmeidig auf dem Blatt gezogen. Ich mußte den Stift kräftig auf dem naß werdenden Papier zudrücken, damit die richtige Bleistiftstärke sich auf dem Papier überträgt. Beim Zeichnen dachte ich, ich kratze zu doll das Papier. Der Rehbock wird nun voll mit Bleistift-Wunden. Als die Zeichnung fertig war, war es stockdunkel. Im Wald kam die Nacht schonungslos rasch.
Drinnen in der Hütte war die Stimmung feierlich. Alle drei Jäger saßen am Tisch. Sie stießen gerade auf das Glück an und tranken den selbst gebrannten Obstler in einem winzigen Glas. Die ganze Nacht lang war das Radio an. Werner erzählte den anderen, wie er den erlegten Rehbock fand. Stundenlang suchte er überall den Bock aber er fand ihn nicht. Er saß im Hochsitz. Er sah nur die Rehgeiß aber keinen Bock. Er kam vom Hochsitz runter und ging wieder zum Wald. Im Wald fand er eine Rehgeiß, die von ihm nicht weit stand. Sie ging nicht von ihm weg, obwohl sie ihn gesehen hatte. Er vermutete, dass die Rehgeiß dort bleibt, wo ihr verletzten Partner lag. Er ging dahin, wo sie herumgeisterte.
„Da lag er, Weidmannsheil, Weidmannsdank!“ sagte er laut, hob sein kleinwinziges Obstlergläslein hoch und trank es aus. Die beiden Jäger, die bis jetzt nur ihm zuhörten, hoben ihre Kleingläschen hoch und sangen laut „Weidmannsheil! Weidmannsdank!“ in Duo. Gleichzeitig tranken sie den Obstler in einem Schluck.