Die anschaulichste Form, auf das Verrinnen der Zeit zu verweisen, ist der Anblick einer Uhr. So finden sich Uhren in der europäischen Kunstgeschichte nirgends so häufig wie in der Gattung des Stilllebens, wo sie neben anderen Gegenständen an die Vergänglichkeit der irdischen Existenz gemahnen sollen. Doch die auf einem Gemälde oder einer Zeichnung dargestellten Uhren stehen still, was erst recht auffiel, als der Lauf der Zeit auch im Bild verfolgt werden konnte. Vielleicht bedurfte es der Erfindung des Films, damit der Stillstand der Zeit so direkt zum Ausdruck kommen konnte wie auf den Gemälden Giorgio de Chiricos, auf denen immer wieder Uhren zu sehen sind. Lange Schlagschatten, die bei de Chirico auf menschenleere Plätze fallen, verweisen zudem darauf, dass alle Uhren mit Zeigern und Ziffernblatt letztlich von der Sonnenuhr abstammen.
Heutige Digitaluhren hingegen zeigen die Zeit numerisch an. So wird die Zeitangabe wie eine Datumsangabe zur Signatur, zum Protokoll, das dokumentiert, wann etwas geschehen oder entstanden ist. Der Künstler, der dies zuerst konsequent in seinem Werk verfolgte, war On Kawara. Motiv seiner am 4. Januar 1966 begonnenen Serie der Date Paintings ist stets die schriftliche Angabe des Datums, an dem das Bild entstand. Zwischen 1970 und 1979 verschickte er periodisch Telegramme an verschiedene ihm bekannte Personen mit der Nachricht „I AM STILL ALIVE. ON KAWARA“.
Man könnte von einer Art Tagebuch sprechen, und das Tagebuch als Form der schriftlichen und bildnerischen Aufzeichnung liegt auch dem Werk Kyung-hwa Choi-ahois zugrunde. Seit 1999 entstehen täglich meist farbige Werke auf Papier, ausgeführt mit Bleistift und Ölfarbe, die sie Tag.Buch.Zeichnungen nennt. Zu den unterschiedlichen Eindrücken, die sie so festhält, gehören auch stilllebenhafte Situationen, etwa im Atelier oder im Badezimmer, die sie mit dem Bleistift detaillierter und naturalistischer wiedergibt als auf den meisten anderen Blättern. Hier findet sich auch eine Armbanduhr oder Zeitanzeigen auf einem Handy oder auf verschiedenen Radioweckern. Skizzenhaft in Öl angelegt tauchen dann auch Uhren mit Ziffernblatt und Zeigern auf, als runde Silhouetten wie herausgelöst aus ihrer Umgebung. Ein besonderes Blatt ist ein Typogramm, auf dem die Ziffern und Zeiger durch mit Schreibmaschine getippte Nullen und Striche dargestellt sind. Knapper ließe sich der Wandel von der analogen zum digitalen Zeitmessung beziehungsweise -anzeige bildlich kaum auf den Punkt bringen.
Die Auseinandersetzung mit verschiedenen „Zeiten“ im Werk von Kyung-hwa Choi-ahoi hat jedoch auch einen konkreten biografischen Hintergrund. Beruhen das Tagebuch und das wiederkehrende Motiv der Uhr nicht auch auf dem Bestreben einer aus Korea stammenden und in Deutschland ansässigen Künstlerin, sich mit dem Leben in einem ihr zunächst sehr fremden anderen Land zu synchronisieren? Davon zeugen auch ihre zahlreichen schriftlichen Notizen, die sie stets in deutscher Sprache verfasst. Wenn sie dabei mitunter an die Grenzen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten gerät, erhalten deutsche Worte gerade dadurch einen neuen Bedeutungsakzent oder es ergeben sich eigene Wortfindungen. Oder Begriffe, die der Künstlerin im Alltag begegnen, werden aus ihrem Kontext herausgelöst, wie „Montagskino“. Aber was findet Dienstag, Mittwoch etc. statt? Das Kino des Lebens zieht immer weiter vorbei, und welcher Film vor 20 Jahren lief, ist längst vergessen – es sei denn, es wurde im Tagebuch notiert.

Ludwig Seyfarth