Der Blick aus der Ferne : Zeichnungen von kyung-hwa choi-ahoi

Der ethnographische Blick, der eine fremde, exotische Kultur von außen trifft und befremdet wahrnimmt, was von innen gesehen als selbstverständlich erscheint, fällt auf die Welt seiner Erfinder zurück. Johann Friedrich Herder hatte Nachrichten verlangt, die uns zeigen, „wie fremde Nation uns sehen“ ; und Pierre de Montesquieu hatte sich ausgemalt, wie reisende Perser Europa wahrnehmen würden. Seiner haben Schriftsteller wie V.S. Naipaul und Künstler wie Chuta Kimura die europäische Welt tatsächlich als Fremde gesehen, und in ihren Werken entdecken wir das uns sonst so Geläufige als etwas Neues und Unbekanntes.
Auf dieselbe Sehweise läßt sich nun die koreanische Künstlerin kyung-hwa choi-ahoi mit ihren Zeichnungen ein.
Sie registriert Alltägliches, aber in Konstellationen, die uns verwirren und ratlos machen. In ihren Zeichnungen wirkt das Vertraute rätselhaft, vertrackt und bestürzend. Winzige Menschen stehen vor riesigen Früchten; aus einem Wasserhahn rinnt Farbe: Dinge, die jemand in der Hand hält, werden durch Striche dargestellt, die gleichzeitig den Raum festlegen. Die Irritation wird dabei durch einfache Kunstgriffe wie die Vervielfältigkeit von Figuren in unterschiedlicher Größe und Richtungen, die Durchkreuzung der Raumillusion oder durch den abrupten Wechsel von Nähe und Ferne erzeugt; und doch stellt sich nachhaltig der Eindruck einer überbordenden, unerschöpflichen Vielfalt ein.
Den Eigensinn, der sich in den Zeichnungen behauptet, das, was sie so faszinierend macht, generiert der Blick der Fremden, deren Sehweisen in einer anderen kulturellen Welt geprägt wurden, und aus der Art, zu zeichnen, die dieser Sehweise entspricht. So wie kyung-hwa choi-ahoi Deutsch mit koreanischem Akzent spricht und deutsche Wörter in einem Sinn verwendet, den wir ihnen eigentlich nicht geben, so macht sich in ihren Zeichnungen „die koreanische Art“, sich zu äußern, wie ein Akzent bemerkbar: die Stille, der leere Raum, die Kombination von Bild und Schrift und der spontane, unkorrigierbare Strich. Die Zeichnungen konnten nur als das Werk einer Koreanerin entstehen und auch nur in europäischen Städten wie Hamburg und Wien. Sie zeigen europäische Situationen, Accessoires und Physiognomien, so wie sie sich einer Fremden darstellen. Deswegen sind sie uns, wie die Fremde selbst: fern und nah zugleich.

Fritz W. Kramer