Zwölffingerdarm

Seit meinem Zwölffingerdarmgeschwür glaube ich fest daran, dass das Phantom einer Metapher meinem Zwölffingerdarm innewohnt. Alles was ich nachts träume, ist ein Rezitieren seiner geschriebenen Poesie.
Es nimmt Tageserlebnisse und meinen Gefühlszustand in sich auf, damit er ordentlich dichten kann. Ein Bild seiner Dichtung projiziert er stetig auf mich, so dass ich mich an alles Mögliche erinnere.
Unerschöpflich verschlingt es meine Memoiren, so wie die Boa eifrig einen Elefanten verschlungen hat. Seine Beute, etwas Sinnesorganisches, verwandelt sich in eine illuminierten Form, mal zu einer Frau, mal in einen Pfad, zu einem Punkt oder in eine Elegie der Metamorphose…

Ich erinnere mich an meinen Milchzahn, einen Vorderzahn im Unterkiefer. Obwohl der Verlust meiner Milchzähne mich nicht begeisterte, wenn ein Zahn im schleimigen, feucht-warmen glitschigen Mund anfing, zu wackeln, hatte ich riesigen Spaß, diesen Wackelzahn mit der Zungenspitze fortdauernd anzutasten, rhythmisch rein und raus zu schieben.
Aber ich wollte nicht, dass ich damit meinen Zahn vom rosaroten Zahnfleisch entbinde. Es geschah vielmehr schlagartig, dass der Wackelzahn los kam. Erschrocken. Frustriert. Unglücklich.
Dann ging ich jedes Mal sittsam zum Hinterhof mit dem eben entbundenen Milchzahn und warf ihn aus voller Kraft auf das Ziegeldach unseres Hauses hin. Dabei wünschte ich mir enthusiastisch einen neuen Zahn.

Letzte Nacht träumte ich von einer Riesenschildkröte und einer Wasserschlange mit einem dreieckigen dreifachen Schlangenkopf, mit denen ich im dunklen Meeresbecken unerwünscht schwimmen musste.
Wir drei wurden gleichzeitig ins Wasser ausgesetzt. In der Reihenfolge: Schildkröte, Ich und Schlange. Mit Verwunderung sah ich den riesigen schweren Panzer der Schildkröte und bewunderte noch mehr ihre anmutige Fortbewegung im Wasser, geschickt und wendig.
Ich streichelte den harten Rücken und seine geometrische Reliefzeichnung. Ich betastete das Vorderbein und spürte scharfkantige Krallen und zog meine Hand ruckartig zurück.
Unweit der Schildkröte sah ich eine gleitende Wasserschlange, die sich mir geräuschlos näherte. Ich erschrak mich und bemühte mich schnell wegzukommen. Aber sie ertappte mich trotz meines Fluchtversuches.
Sie schlang sich um meinen Körper. Dabei züngelte sie mit dem geschlossenen Mund. Eine gespaltene Giftzunge in jedem Kopf. Sie glitt auf meinen Rumpf und hinterließ ihren kalten Schweiß auf meiner Haut. Ich hielt meinen Atemzug an, solange ich konnte und ich tat, als ob ich ein Meeresstein wäre. Aber im tiefen Inneren wünschte ich, ich wäre eine Feuerkoralle.

Ich sehe den Bluterguss meines rechten Mittelfingers. Dieses Jahr werde ich meinen Fingernagel verlieren. Als das Flugzeug landete, schneite es. Unmengen von Schneeflocken. Jetzt im Dunkeln sehe ich eine weiße Stadtlandschaft. Zwar schneit es nicht, aber es ist kalt, eiskalt. Mitten im März. In Istanbul zwölf Grad Celsius Tagestemperatur, als mein Finger in der nagellackweißen Autotür eines Metropoliten eingeklemmt und deshalb verletzt wurde. Ich wünschte mir noch einen Finger, damit ich meine Reiseskizzen fortführen könnte. Zwei Finger Reserve. Sechs Finger links, sechs Finger rechts. Die Achsensymmetrie.
Im Bahnhof Sirecki sah ich fünf tanzende Derwische, die sich um ihre Achsen drehten. Die Sufis drehten sich. Ihre kreisenden Schatten auf dem Boden. Die dunklen fünf verzerrten Kreise drehten sich im Schwung. Die Poesie des schwarzen Kreises. Ach, wieder das Phantom meines Zwölffingerdarms!