Das quadratische Tuch
Ich habe eine koreanische Freundin namens Hae-kyung. Sie ist Komponistin. Sie hat einen ziemlich launischen Charakter. Ihre Stimmung geht mehrmals hoch und runter innerhalb eines Tages. Sie fühlt sich so gut wie eine glücklichste Prinzessin und plötzlich wieder ganz das Gegenteil. Dann geht es ihr sehr schlecht und sie hält sich für einen alten, unverheirateten Pechvogel. Dabei seufzt sie so tief, dass ihr Seufzen ein Loch in die Erde bohrt.
Heute Morgen rief sie mich an und sagte, sie wolle sich auf ihr Konzert im nächsten Jahr vorbereiten, könne sich aber zurzeit nicht gut auf ihre Musik konzentrieren. Wenn es so weiter ginge, müsse sie ihr Bündel schnüren und nach Hause zurückkehren. Ich bin ihre launischen Plaudereien gewöhnt und besonders ihre Bündelgeschichte. Darum nehme ich ihre Worte nicht wirklich ernst, es ist ein wöchentliches Ritual aus einer launischen Langeweile heraus, ganz wie in der Fabel „Der Wolf und der Schäfer”.
Ich nehme es nicht wirklich ernst und höre nicht wirklich zu, während sie klagt. Plötzlich zieht in meinem Kopf ein Blitz-Gedanke vorbei. Bündel – sie nimmt ihre Bündel zur Rückkehr in die Heimat. Ein Tuch zum Bündeln ist quadratisch, Malewitsch, Suprematismus, Umzug, eine Fläche ohne Volumen, Gehen, etc. Gedanken im Strom. Ich überlege weiter, welche Rolle dieses quadratische Tuch, „Bojagi”. auf koreanisch, im Alltag spielt und welche eigene Bedeutung dieses quadratische Tuch dabei hat.
Man erzählt sich, die Generation unserer Eltern habe diese Tuch in ihrer Kindheit als Schulranzen benutzt, und als der koreanische Bruderkrieg im Jahr 1950 begann, verschnürten die Flüchtlinge ihr nötigstes Hab und Gut darin. Es waren Taschen zur Flucht. Deswegen enthält das Bündel zum Teil eine bittere Erinnerung an die koreanische Geschichte. In meinem privaten Fall wird es ausnahmslos für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt.
In meiner Kindheit war dieses Tuch ein wunderschönes Kostüm, um mit Freunden „goldene Fledermaus”. zu spielen. Wir haben die beiden Ecken des Tuchs um den Hals gebunden. Während wir überall von Gässchen zu Twiete laufen, schreien wir dabei laut „goldene Fledermaus”. – so wie Superman. Dabei flattert das Tuch auf dem Rücken und macht Geräusche, flatter, flatter, flatter. Wenn ich es höre, denke ich, ich fliege, ich fliege.
Als ich klein war, benutzte meine Mutter das Tuch zum Haareschneiden. Wenn sie meine Haare schnitt, legte sie das Tuch auf meine Schultern und umhüllte meinen ganzen Körper, um zu verhindern, dass die Haare auf meine Kleidung fielen. Die geschnittenen kurzen Haare fallen und rutschen über die Oberfläche des Tuchs zu Boden. Weil die meisten quadratischen Tücher aus 100-prozentigem Nylon bestehen und weil die Textur dieser Tücher so glatt wie ein Spiegel ist.
Seit zwei Jahren pendeln meine Eltern zwischen ihrem Hauptwohnsitz in Seoul und dem Sommerhaus auf Insel Gang-hwa, zweimal wöchentlich. Die Fahrt dauert zirka eineinhalb Stunden. Der Weg ist nicht besonders weit, aber sie schleppen jedes Mal viele Dinge mit sich. Wenn ich sie in den Ferien besuche, helfe ich ihnen zu packen. Selbstverständlich in quadratische Tücher. Ich wundere mich darüber und begeistere sie.
Es gibt die Redewendung „Bottari jangsu”. auf Koreanisch. Das bedeutet „ein Händler mit Bündel”, sozusagen „Bündel-Händler”. Bündel-Händler besitzen keinen Laden, sie sind sehr arm. Sie bringen in Tuch gepackte Waren auf die Straße. Sie legen ihre billigen Produkte auf diesem Tuch am Rande des Fußwegs aus und verkaufen sie ohne Verkaufsgenehmigung. Wenn die Polizei kommt, schnüren sie sofort ihr Bündel und entfliehen, bevor die Polizei sie erwischt.
Früher kamen viele junge Menschen aus dem Dorf nach Seoul, um eine Arbeitsstelle zu suchen. Dabei hatten sie immer ein Bündel in der Hand. In der Gegenwart werden quadratische Tücher von den Händlern oft zu Werbezwecken genutzt. Namen von Geschäften und Telefonnummern werden auf das Tuch gedruckt und kostenlos verteilt. Die Originalfarbe der meisten quadratischen Tücher war ein Mittelton zwischen roten Bohnen und dunkelroten Klinkern. Heutzutage sind quadratische Tücher im Allgemeinen hellblau oder hellpink. Bojagi, wie gesagt, quadratische Tücher, die es in der Größe von ca. 80 × 80 cm gibt.
Es gibt verschieden Dinge, um etwas typisch Koreanisches darzustellen. Aber meiner Ansicht nach ist Bojagi der beste Gegenstand, um die koreanische Kultur zu verstehen. Das Quadrat ist der Grund, der die koreanische Mentalität formt. Man sagt, wenn einer von einer Reise zurückkehrt oder wenn einer ein Geheimnis weiß: „Öffne Dein Bündel!”. Das bedeutet:“Sprich!”, oder: „Erzähl, bitte!”.
Vor 15 Jahren schnürte ich mein Bündel und kam nach Europa. Und so erzähle ich Euch die Geschichte vom Bündel, öffne ich mein Bündel.